Sie befinden sich hier

Inhalt

Pressemitteilung

Queuosin fördert Lernen und Gedächtnisbildung durch Aufrechterhaltung gleichmäßiger Eiweißsynthese

Der Einbau von Queuosin fördert das Lernen und Gedächtnis weiblicher Individuen

Der Mechanismus als Grafik: Queuosin (Q) ist ein modifiziertes Nukleosid, welches bei bestimmten tRNAs an der Bindestelle zur Boten-RNA vorkommt. Bei Säugetieren wird die Queuosinylierung durch die Aufnahme von Q aus der Darmflora oder durch die Nahrung ermöglicht. Der Verlust der Q-tRNA-Modifikation durch künstliche Entefernung des Qtrt1-Gens bei Mäusen führt zu einem Ungleichgewicht in der Eiweißsythese, was zu Veränderungen der Hippocampus-Architektur und zu einer geschlechtsabhängigen Verringerung der Gedächtnisleistung führt.

Biochemiker am Mannheim Institute for Innate Immunoscience (MI3) der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg haben ein neues Mausmodell etabliert, mit dem sie die Bedeutung des Mikronährstoffs Queuosin aufklären konnten. Dr. Francesca Tuorto aus der Abteilung von Prof. Stoecklin und ihr Team konnten zeigen, dass der Verlust des Einbaus von Queuosin in transfer-RNA (tRNA) zu Störungen im Hippocampus und infolgedessen zu Lern- und Gedächtnisdefiziten führt. Die Forscher*innen konnten diese Defekte auf ein Ungleichgewicht in der Synthese von Eiweißen zurückführen.

Bedeutung der Darmflora bei der Aufnahme von Queuosin

Queuosin gehört ähnlich wie die Vitamine zu den Mikronährstoffen, welche vom menschlichen Körper selbst nicht hergestellt werden und daher über die Nahrung aufgenommen werden müssen. Da Queuosin nur von Bakterien gebildet wird, spielt zudem die Darmflora bei der Bereitstellung von Queuosin eine besondere Rolle. Nach der Aufnahme in den Körper wird Queuosin innerhalb unserer Körperzellen in bestimmte tRNAs eingebaut, womit Queuosin-tRNA (Q-tRNA) entsteht. tRNAs sind zentrale Vermittler während der Eiweißsynthese, welche den genetischen Code vor dessen Abschrift in Form einer Boten-RNA ablesen und in Aminosäureketten übersetzen, die sich anschließend zu den funktionstragenden Eiweißen falten.

Um der Bedeutung von Queuosin auf die Spur zu kommen, züchtete das Team um Francesca Tuorto eine transgene Mauslinie, der das Enzym Qtrt1 fehlt, welches für den Einbau von Queuosin in tRNA verantwortlich ist. Als wichtigsten Unterschied zu den normalen Wildtyp-Mäusen konnten die Forscher*innen bei den Qtrt1-defizienten (Q1) Mäusen Verhaltensänderungen feststellen. Detaillierte Verhaltenstests zeigten, dass Q1 Mäuse hyperaktiv sind und eine geringere Lern- und Gedächtnisleistung aufweisen. Besonders interessant an den Ergebnissen war, dass die Verhaltensstörungen bei weiblichen Mäusen deutlich ausgeprägter waren als bei männlichen.

Zentrale Defekte im Hippocampus

Auf der Suche nach der Ursache dieser Verhaltensveränderungen konzentrierten sich die Forscher*innen auf den Hippocampus, einer tiefliegenden Struktur im Gehirn, welche zentrale Aufgaben beim Lernvorgang und der Gedächtnisbildung ausübt. Mikroskopische Untersuchungen zeigten, dass die Anzahl und Architektur der Nervenzellen im Hippocampus von Qtrt1-defizienten Mäusen reduziert ist. Wiederum waren diese morphologischen Defekte in den weiblichen Qtrt1-defizienten Mäusen ausgeprägter als in den männlichen, was insgesamt sehr gut zu den eingangs beobachteten Verhaltensänderungen passte.

Ungleichgewicht in der Eiweißsynthese

Um die molekulare Grundlage der Defizite in Q1-Mäusen zu verstehen, führte das Team eine Analyse der Eiweißsynthese im Hippocampus mittels modernster Hochdurchsatz-Sequenzierungsverfahren (next generation sequencing) durch. Diese Untersuchungen ergaben zum einen, dass die Eiweißsynthese an genau den Stellen verlangsamt war, an denen in normalen Zellen Q-tRNAs die Boten-RNA effizient ablesen. Die fehlende Queuosinylierung in den Q1-Mäusen führt offenbar dazu, dass die Ribosomen, welche die Eiweißsynthese durchführen, an den entsprechenden Stellen stehenbleiben.
Zum anderen zeigte sich ein generelles Ungleichgewicht in der Eiweißsynthese, welches die Forscher*innen auf Zusammenstöße mit den stehengebliebenen Ribosomen zurückführen konnten. Die Situation kann mit dem Straßenverkehr verglichen werden, wo Defekte in einzelnen Fahrzeugen dazu führen, dass der gesamte Verkehr ins Stocken gerät. In den Hippocampuszellen der Q1-Mäuse konnten entsprechend auch zelluläre Alarmsignale festgestellt werden, die bei einer generellen Störung der Eiweißsynthese auftreten. Die Forscher*innen vermuten, dass diese Alarmsignale eine Stressantwort auslösen, welche zusammen mit der beeinträchtigten Eiweißsynthese dazu führt, dass die Zellen im Hippocampus ihre Funktion nicht ausreichend ausüben können.
Mit dieser Studie konnte Francesca Tuorto Arbeiten erfolgreich weiterführen, welche sie am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg begonnen hatte. Das neu entwickelte Mausmodell ermöglichte es, grundlegende Erkenntnisse zur Bedeutung von Queuosin für die Entwicklung und Funktion des Gehirns zu erlangen. Die Ergebnisse fügen sich in eine Reihe neuerer Studien ein, welche zeigen, dass auch diverse andere tRNA-Modifikationen primär für die Entwicklung des Gehirns wichtig sind. Dies lässt vermuten, dass das zentrale Nervensystem besonders empfindlich auf Unregelmäßigkeiten in der Eiweißsynthese reagiert. 

Darüber hinaus deutet die Studie darauf hin, dass ein bakterieller Mikronährstoff zu geschlechtsspezifischen Unterschieden im Verhalten und in der Funktion des Gehirns beitragen könnte. Es bleibt allerdings ein Rätsel, warum der Mangel an Q-tRNA weibliche Mäuse viel stärker beeinträchtigt als männliche. Dieser geschlechtsabhängige Aspekt wird Gegenstand einer Folgestudie sein, die kürzlich von der DFG finanziert wurde. Spannend bleibt zudem die Frage, inwiefern sich diese Erkenntnisse auf den Menschen übertragen lassen, und ob die Darmflora über Queuosin einen direkten Einfluss auf die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns ausübt. Dies könnte insbesondere bei Patienten eine Rolle spielen, deren Darmflora durch eine langandauernde Antibiotikatherapie geschwächt ist. 

Publikation
Queuosine-tRNA promotes sex-dependent learning and memory formation by maintaining codon-biased translation elongation speed
Cansu Cirzi, Julia Dyckow, Carine Legrand, Johanna Schott, Wei Guo, Daniel Perez Hernandez, Miharu Hisaoka, Rosanna Parlato, Claudia Pitzer, Franciscus van der Hoeven, Gunnar Dittmar, Mark Helm, Georg Stoecklin, Lucas Schirmer, Frank Lyko & Francesca Tuorto
The EMBO Journal
DOI: 10.15252/embj.2022112507